Ein Kurzfilm, der dort trifft, wo die Geschichte noch wehtut
Mersch (Helvilux) – Am 7. Dezember 2025 im Kinoler in Kohlerat um 17 und 18 Uhr und bereits am 23. November 2025 im kleinen Theater in Mersch war der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als zweihundert Menschen kamen zur Premiere eines 35-minütigen Films, der das Publikum mit seiner Zurückhaltung und zugleich rohen Kraft in sprachloses Schweigen versetzte: Lager 103 – Teil 1: De Feind am Duerf (Der Feind im Dorf).
Produziert von den Mierscher Guiden a Scouten (Pfadfinderinnen und Pfadfinder), der Grupp Saint-Michel sowie den Geschichtsfrënn vun der Gemeng Miersch (Geschichtsfreunde der Gemeinde Mersch), ist dieser Amateurkurzfilm (Gesamtbudget: 7.000 €) das jüngste Kapitel eines bemerkenswerten Erinnerungsprojekts, das vor mehreren Jahren gestartet wurde. Jedes Jahr wird ein neuer Film einem der 48 Namen auf dem örtlichen Kriegerdenkmal gewidmet. Dieses Mal steht die Geschichte der Familie Arendt aus Reckange-Mersch im Mittelpunkt.
19. September 1942, 6 Uhr morgens
Ein heftiges Klopfen an der Tür. Der örtliche Kollaborateur Schranz, eine tatsächlich historische Figur aus dem Dorf – erscheint in Begleitung deutscher Beamter und teilt der Familie Arendt mit, dass sie zwei Stunden Zeit haben, ihr Leben zusammenzupacken. 30 kg pro Person, alles auf offiziellen Formularen aufzulisten, dann ab in den Bus. Ziel: “Lager 103 Boberstein” in Niederschlesien, eines der ersten “Umerziehungs”- und Zwangsarbeitslager für Luxemburger, die nach dem landesweiten Streik im August–September 1942 als politisch unzuverlässig galten.
Der gesamte Film spielt in Echtzeit im einzigen Wohnküchenraum des Bauernhauses der Familie (gedreht vor Ort in Savelborn). Es gibt keine Kampfszenen, keine schwellende Filmmusik – nur das dumpfe Zuklappen von Koffern, geflüsterte Gespräche, unterdrückte Tränen, Kinder, die nicht ganz begreifen, was geschieht, und vor allem die unerträgliche Präsenz des “Feinds im Dorf”. Der Nachbar, der denselben luxemburgischen Dialekt spricht und der innerhalb weniger Monate zum willigen Vollstrecker der NS-Befehle geworden ist.
Weder schwarz-weiß noch sentimental
Auffällig ist der Verzicht auf einfaches Pathos. Schranz ist kein Karikatur-Bösewicht. Er kennt die Familie persönlich, teilt ihre Sprache und rechtfertigt sich mit Parteiparolen (“Das ist die Gerechtigkeit des Nationalsozialismus“). Der Film zeigt leise, wie ein gewöhnlicher Mann zum Kollaborateur wird. Ihm gegenüber steht die jugendliche Catherine (“Käthe”) Arendt, die eine ruhige, aber ungebrochene Haltung verkörpert – ein Blick, ein kurzer Satz, eine Weigerung, sich zu beugen, die das emotionale Rückgrat des Films bilden.
Fred Mersch und Erny Kohn schrieben das Drehbuch und führten die historischen Recherchen durch. Oli Frisch führte die Kamera, und Paul Kohn inszenierte das ehrenamtliche Ensemble (viele von ihnen heutige Pfadfinder). Ada Funcks Kostüme und Marie-Lou Clonans Musik sitzen perfekt. Nichts wirkt billig oder gezwungen.
Eine lebendige, kollektive Erinnerung
Seit mehreren Jahren produzieren die Geschichtsfrënn jährlich einen solchen Kurzfilm. Jeder wird zuerst am Nationalen Gedenktag in der Dekanatskirche von Mersch gezeigt, anschließend im lokalen Theater und schließlich kostenlos auf dem YouTube-Kanal “Miersch erënnert sech!“ veröffentlicht. Der Film des vergangenen Jahres, D’Ierbsenzopp ass gutt, hat bereits über 14.000 Aufrufe und wird regelmäßig in Schulen gezeigt.
Lager 103 – Teil 1 ist nun frei auf YouTube verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=7n6qkd5ysvk
Teil 2, der das Leid der Familie im Lager und Catherines traumatische Rückkehr nach Luxemburg Ende 1943 verfolgen wird, befindet sich bereits für 2026 in Produktion.
Lager 103 Boberstein: Ein “Modelllager” der Zwang und Ausbeutung

Gegründet 1942, inmitten des unstillbaren Arbeitskräftehungers des Reiches – der 1944 mit 12 Millionen Zwangsarbeitern seinen Höhepunkt erreichte, 20 % der deutschen Arbeitskraft – war das Umsiedlungslager Boberstein (Lager 103) eines von mehreren “Umsiedlungslagern“ in den annektierten polnischen Gebieten Niederschlesiens. In der Nähe des Bóbr-Flusses im damaligen Gau Niederschlesien gelegen, diente es sowohl als Durchgangsstation als auch als Zwangsarbeitslager unter Aufsicht der SS, angebunden an das Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums (RKFDV), Heinrich Himmlers Behörde zur “Stärkung des deutschen Volkstums“.
Offiziell ein “Familienlager“ zur “Wiedereindeutschung“, beherbergte Lager 103 Deportierte aus Luxemburg, dem Elsass-Lothringen und anderen „Grenzräumen“, die als unzureichend loyal galten. Familien wurden aus ihren Häusern gerissen, durften pro Person lediglich 30 kg Besitz mitnehmen (auf Gestapo-Formularen inventarisiert) und wurden per Bahn nach Osten verschleppt – tagelange Fahrten in Viehwaggons, oft ohne Nahrung und sanitäre Einrichtungen. Bei der Ankunft verlor man seine Identität: Männer und ältere Jungen wurden in brutale Fabrik- oder Minenarbeit geschickt (etwa für Krupp- oder IG-Farben-Nahbetriebe), Frauen zu häuslicher oder landwirtschaftlicher Fron, Kinder zur NS-Jugendindoktrination. Die Bedingungen entsprachen den üblichen Schrecken der Zwangsarbeit: Hungerrationen (1.000–1.500 Kalorien täglich), Krankheiten (Typhus, Ruhr), Schläge durch Kapos, und „Vernichtung durch Arbeit“ für die Schwachen.
Anders als Vernichtungslager tötete Lager 103 „indirekt“ – durch Überarbeitung und Vernachlässigung – aber nicht weniger tödlich. Deportierte aus Luxemburg, oft Bauern wie die Arendts, wurden zu Industriearbeit gezwungen, für die sie keinerlei Vorbereitung hatten, was hohe Ausfall- und Todesraten zur Folge hatte. Die Bezeichnung „103“ war reine NS-Buchhaltung: ein Eintrag im gigantischen System der Zwangsarbeit, das insgesamt 20 Millionen Europäer ausbeutete, darunter 5,7 Millionen zivile Arbeitskräfte bis 1944.
Himmlers Vision war total: Überlebende sollten “als Deutsche erlöst“ werden – oder zugrunde gehen, während ihre Heimatgebiete kolonisiert würden. 1945, mit dem Vormarsch der Roten Armee, wurde das Lager auf Todesmärsche evakuiert; die Zurückgelassenen befreit, die Familien aber zerrissen.
Vermächtnis: Vom Schweigen zur Leinwand – und warum es heute zählt

Luxemburgs Verluste im Zweiten Weltkrieg – 5.700 Tote, rund 2 % der Bevölkerung, waren unverhältnismäßig hoch. Die Deportationen trafen Tausende jenseits der jüdischen Opfer: Streikende wurden nach Hinzert verschleppt, Familien von Wehrdienstverweigerern in Lager wie Boberstein. Nach dem Krieg rang das Großherzogtum mit Kollaboration (z. B. den VdB-Prozessen) und Traumata und formte daraus eine widerstandsfähige Identität. Doch wie der Film Lager 103 (Premiere am 23. November 2025 in Mersch und am 7. Dezember 2025 in Kohlert) zeigt, lebt Erinnerung vor allem lokal weiter – Scouts und Historiker, die jenen verhängnisvollen Morgen nachstellen und die nackten Zahlen zu menschlichen Schicksalen zurückführen.
In einem Land, in dem der Zweite Weltkrieg noch immer ein sensibles, teils verschwiegenes Thema ist – zwischen Familienschweigen und offiziellen Zeremonien, leisten diese selbstproduzierten Filme, getragen von Jung und Alt aus der Gemeinde, etwas Außerordentlich Wertvolles. Sie machen Geschichte greifbar, menschlich und unvergesslich.
Denn der wahre Feind, damals wie manchmal auch heute, verbirgt sich oft mitten im Dorf.
Schaut ihn euch an. Teilt ihn.
Mersch erinnert und erinnert uns daran, warum wir niemals aufhören dürfen zu erinnern.

